Während Medien, Politik und Bevölkerung sich an die bewegenden Momente des Berliner Mauerfalls erinnern, werden zur gleichen Zeit die nächsten Mauern ausgebaut.
Ich gebe es zu: Auch ich werde sentimental, wenn ich an den Fall der Berliner Mauer denke – und das, obwohl ich damals erst neun Jahre alt war. Meine Familie war gerade erst aus Deutschland nach Wien gezogen und war noch immer der deutschen Fußballmannschaft verbunden. Die Bilder, die plötzlich überall zu sehen waren, berührten schon mich mit meinen neun Jahren: Menschen, die sich in die Arme fielen, Tänzerinnen und Tänzer auf der zerbröckelnden Mauer, Feuer im Himmel. Ich wusste, es war Großes geschehen – und ich fragte mich, ob ich je wieder einen solchen historischen Moment erleben würde.
Noch heute frage ich damalige OstberlinerInnen, wo sie waren, als die Mauer fiel. Manche glaubten den Meldungen nicht, andere fuhren so schnell wie möglich in den Westen, da sie fürchteten, die Grenze würde jeden Augenblick wieder geschlossen. Mutige Menschen nahmen in den Jahren vor dem Fall illegale Flüchtlinge aus dem Osten auf, PolitikerInnen schnitten symbolträchtig den Drahtzaun durch. Jede und jeder schien etwas zum Erfolg beigetragen zu haben – frei nach dem Sprichwort: Der Sieg hat viele Väter, die Niederlage nur einen.
Auch ich habe in den Medienberichten geschwelgt – bis ich stutzig wurde: Zur gleichen Zeit, in der wir – nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa gleich mit – uns selbst bejubeln und beweihräuchern, dass die Mauer niedergerissen wurde, bauen wir woanders eine neue Mauer auf. An den Außengrenzen Europas. Während Medien, Politik, ganz Europa – berechtigterweise – den Fall von künstlich geschaffenen Grenzen feiert, spannen wir einen neuen eisernen Vorhang. Klar, die politischen Hintergründe sind verschieden. Doch während wir dieser Tage den Mut und vor allem die ideologischen Motive der Flüchtlinge von damals lobten, wurde gegen drei Mitarbeiter der Organisation Cap Anamur Prozess geführt, weil sie 37 afrikanische Flüchtlinge in Seenot vor dem Ertrinken gerettet haben. Die Anklage lautete Beihilfe zur illegalen Einwanderung. Die Drei wurden nach einem fast fünf Jahre dauernden Prozess freigesprochen. In einem ähnlichen Fall wartet man auf die Urteilsverkündungam 17. November: Sieben tunesische Fischer, die vor zwei Jahren 45 Schiffsbrüchigen – da sie nicht EU-Bürgerinnen und -Bürger waren, wurde Ihnen die Hilfe verweigert – das Leben gerettet haben, sind wegen Förderung illegaler Einreise angeklagt.
Nicht nur versuchen wir die Außengrenzen der EU mit einem – im wahrsten Sinne des Wortes – eisernen Vorhang sicher vor unerwünschten Eindringlingen zu machen, nein, wir setzen sogar eine eigene Agentur ein, die unterernährten Flüchtlingen auf hoher See Hilfe verweigert und angeblich durch Mittelsmänner Boote, die zur Flucht bereitstehen, zerstören lässt. In all den schönen Erinnerungen an das Niederreißen von künstlichen Grenzen und Mauern, die wir zwischen uns bauen, frage ich mich: Haben wir eigentlich nichts gelernt über Grenzen, die Menschen trennen?